Flüchtlinge schneidern Mode „Made in Hessen“

von Benjamin Jungbluth

Flüchtlinge schneidern Mode „Made in Hessen“

von | 15. Mai 2020 | Leben, Wirtschaft

Mode-Manufaktur Stitch by Stitch

Im Frankfurter Trendviertel Bornheim produziert die Mode-Manufaktur Stitch by Stitch professionelle und nachhaltige Stücke für junge Designer und Labels im gesamten deutschsprachigen Raum. Die beiden Gründerinnen Nicole von Alvensleben und Claudia Frick beschäftigen dafür weibliche Flüchtlinge, die neben ihrer formellen Ausbildung zahlreiche Integrationsangebote erhalten – und gleichzeitig der deutschen Gesellschaft durch ihr Können viel zurückgeben.

„Unsere Idee war, Integration nicht als Almosen zu verstehen, sondern Flüchtlinge so einzusetzen, dass sie ihre Fähigkeiten und Leistungen zeigen und sich auf diese Weise selbst etwas erarbeiten können.“

Nicole von Alvensleben
Geschäftsführerin „Stitch by Stitch“

In dem großen, hellen Raum mit den leuchtend weißen Wänden im Osten von Frankfurt sind neun Schneiderinnen emsig am Werk. Sie bedienen kleine und große Maschinen, bügeln Stoffe auf, bearbeiten in atemberaubendem Tempo Kleidungsstücke mit Nadel und Faden und kreieren so Musterstücke und ganze Kollektionen für junge Designer und hochwertige Modelabels. Das Besondere: Die Frauen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren sind allesamt Flüchtlinge. Sie kommen aus verschiedenen Krisengebieten der Welt, vor allem aus Syrien und Afghanistan. Und sie entwickeln in einem Hinterhof im Frankfurter Trendviertel Bornheim hochwertige Mode, lernen nebenbei Deutsch und verdienen – oft als einzige in ihrer Familie – eigenes Geld.

„Wir verknüpfen hier zwei Dinge, die uns wichtig sind: Die Unterstützung und tatsächliche Integration von Flüchtlingen einerseits sowie die Anfertigung außergewöhnlicher Mode ‚Made in Germany‘ andererseits“, sagt dazu Nicole von Alvensleben, die bei dem Startup Stitch by Stitch als Geschäftsführerin und Social Entrepreneur Verantwortung trägt. Zusammen mit der Mode-Designerin und Maßschneiderin Claudia Frick gründete sie 2016 das Unternehmen, um einen neuen Ansatz zu wagen: Die Verbindung von Integrationsarbeit und anspruchsvollem Startup. Für viele Gründer würde schon eines der beiden Projekte mehr als genug Arbeit bedeuten – doch die beiden engagierten Chefinnen mit langjähriger Berufs- und Selbstständigkeitserfahrung wollten unbedingt ihre Überzeugungen in die Tat umsetzen.

Die Produktion im Atelier von Stitch by Stitch.

© Jungbluth

Die beiden Gründerinnen von Stitch by Stitch, Nicole von Alvensleben (2. v. r.) und Claudia Frick (r.), im Atelier.

© Jungbluth

Etwas versteckt in einem Hinterhof im Frankfurter Trendviertel Bornheim liegt das Atelier von Stitch by Stitch.

© Jungbluth

Etwas versteckt in einem Hinterhof im Frankfurter Trendviertel Bornheim liegt das Atelier von Stitch by Stitch.

© Jungbluth

Ein Stockwerk unterhalb des Ateliers gibt es einen gemütlichen Pausenraum, in dem auch der Deutsch- und Nachhilfeunterricht für die Mitarbeiterinnen stattfindet.

 © Jungbluth

Die Produktion im Atelier von Stitch by Stitch.

© Stitch by Stitch

„Unsere Idee war, Integration nicht als Almosen zu verstehen, sondern Flüchtlinge so einzusetzen, dass sie ihre Fähigkeiten und Leistungen zeigen und sich auf diese Weise selbst etwas erarbeiten können“, erklärt von Alvensleben. „Dadurch begegnen wir uns alle automatisch auf Augenhöhe. Denn unsere Mitarbeiterinnen bekommen nicht nur etwas von uns und der deutschen Gesellschaft, sondern sie geben der Firma und der Gesellschaft auch etwas Gleichwertiges zurück.“ Für die beiden Gründerinnen liegt darin der Schlüssel zum Erfolg: Ihre Angestellten können stolz auf ihre eigene Leistung sein, sind dadurch engagiert und mit viel Freude dabei. „Das merken wir ganz deutlich am Ergebnis – was in unserer Branche, in der es um hohe Qualität geht, sehr wichtig ist“, sagt Claudia Frick. Zusammen mit Werkstattleiterin Eva Weih kümmert sich die gelernte Maßschneiderin um alle inhaltlichen Fragen, gibt den Mitarbeiterinnen Tipps und Anweisungen und behält die Abläufe im Atelier genau im Auge. Rund 30 Labels aus dem gesamten deutschsprachigen Raum lassen bei Stitch by Stitch regelmäßig fertigen, je Bestellung zwischen fünf und 250 Teile – es gibt also viel zu tun für die Frauen.

Gerade junge Designer und Marken benötigen oft nur eine geringe Stückzahl an Mustern und Verkaufsexemplaren, diese dafür aber möglichst zeitnah. Mit dem Niedergang der ehemals bedeutenden deutschen Textilbranche ist es jedoch immer schwieriger geworden, passende Firmen für derartige Aufträge zu finden. „Es gibt bei uns heute vergleichsweise wenige Maßschneider, und die können solche Aufträge höchstens nebenbei als Zubrot annehmen. Insofern besteht da eine Marktlücke, die wir mit unserem Startup optimal füllen“, sagt Claudia Frick freudestrahlend. „Die Nachfrage ist seit unserer Gründung riesig, das reißt einfach nicht ab.“

Um ihren hohen Standard zu gewährleisten, müssen Nicole von Alvensleben und Claudia Frick bei der Auswahl ihrer Mitarbeiterinnen streng sein. Die Zahl an Bewerberinnen ist deutlich größer, als die zu besetzenden Stellen. „Schneidern ist gerade in Ländern, aus denen viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen, weit verbreitet, oft auch auf einem hohen Niveau. Dennoch müssen wir immer wieder Absagen erteilen, weil unsere Aufgaben meist sehr komplex sind“, sagt Claudia Frick. Gleichwohl bietet das Handwerk einen großen Integrationsvorteil: Hier kommt es weniger auf Sprache und Zeugnisse an, als vielmehr auf Können und Geschick. „Wir sehen sofort, ob eine Bewerberin das Potential hat. Und das fördern wir dann“, sagt Frick. Alle Frauen erhalten eine Nachqualifikation oder eine Ausbildung, um in absehbarer Zeit einen deutschen Gesellenbrief als formellen Abschluss in den Händen zu halten. Währenddessen verdienen sie 9,50 Euro pro Stunde im Atelier.

Labels bestellen regelmäßig

Schneiderinnen aus aller Welt

weibliche Chefs leiten sie an

Teile kann eine Bestellung beinhalten

Diesen Weg geht auch Esraa Ali, die erste Angestellte von Stitch by Stitch. Die damals 21-Jährige kam Ende 2015 auf Nicole von Alvensleben und Claudia Frick zu, nachdem sie von den Plänen der beiden Gründerinnen erfahren hatte. Vor ihrer Flucht aus Syrien hatte sie in der Hauptstadt Damaskus an einer Kunsthochschule studiert. Die Chemie zwischen der jungen Flüchtlingsfrau und den beiden Unternehmerinnen stimmte sofort. Mit der Firmengründung 2016 begann sie deshalb eine Ausbildung zur Maßschneiderin mit Schwerpunkt Damen. Seitdem ist sie der Stolz ihrer Familie, denn sie verdient ihr eigenes Geld – sogar in dem für sie zunächst fremden Land, das sie nach ihrer Flucht aufgenommen hat und wo es naturgemäß für sie schwer ist, sich zurechtzufinden. „Esraas Vater hat uns einfach nur voller Dankbarkeit angestrahlt, als er von ihrer Anstellung erfahren hat“, erzählt Nicole von Alvensleben von der Begegnung. „So etwas macht den Flüchtlingen, aber auch uns, Mut, dass wir gemeinsam die Integration bewältigen können.“

Dass nur weibliche Angestellte in dem jungen Unternehmen arbeiten, hat derweil mit der persönlichen Ausrichtung der beiden Gründerinnen zu tun. „Wir haben nichts gegen Männer, aber für unser Team passen Frauen einfach noch besser“, erklärt Nicole von Alvensleben lachend. Gleichzeitig soll so auch eine Form der Gleichberechtigung und Förderung in einem geschützten Rahmen entstehen, wenn gerade Frauen einen Großteil des Familieneinkommens erwirtschaften. „Wobei die Ehemänner und Väter – allen Klischees zum Trotz – damit keine Probleme haben“, versichert sie.

Fakten und Zahlen

  • 2016 gegründet
  • 9 Schneiderinnen aus aller Welt
  • 30 Labels


Die Gründerinnen

Claudia Frick, Dipl. Mode-Designerin, gelernte Maß-Schneiderin, und Dozentin für Mode und Design, hat über 15 Jahre Erfahrung in der Textilbranche als selbstständige Designerin im Rhein-Main-Gebiet. Sie ist auch Gründerin des Frankfurter Modelabels ‘Coco Lores’ (2008). Bei Stitch by Stitch ist sie die Fachexpertin für die gesamte Produktion.

Nicole von Alvensleben, Social Entrepreneur, MBA, Dipl. Designerin, gelernte Werbekauffrau, bringt über 17 Jahre Expertise im Branding mit. Ihren Master in Business (MBA, Oxford) hat sie 2015 gemacht, mit Schwerpunkt ‚Social Entrepreneurship‘. Sie ist Gründerin des Studio ‘spelldesign’ in New York (2003)/ Frankfurt (2013). Bei Stitch by Stitch ist sie für das Management des Unternehmen, das Marketing und die gesamte Kommunikation zuständig, schreibt Pitch-Konzepte und managt alles rund um Ausländerbehörde, Arbeitsagentur und Jobcenter.

Stitch by Stitch | Mainkurstraße 13 – im Hof | 60385 Frankfurt
www.stitchbystitch.de

 

Geschäftsstelle Kreativwirtschaft Hessen

Die Geschäftsstelle Kreativwirtschaft Hessen bei der HA Hessen Agentur GmbH ist im Auftrag des Hessischen Wirtschaftsministeriums Ansprechpartnerin und Schnittstelle für die hessische Kultur- und Kreativwirtschaft. Ihr Ziel ist die Förderung innovativer Ideen aus Hessen und die stärkere Sichtbarmachung der Branche – auch über Landesgrenzen hinaus. Mit Events wie dem Kreativwirtschaftstag und durch die Zusammenarbeit mit Multiplikatoren wie Kreativnetzwerken, Wirtschaftsförderern und Hochschulen trägt sie erfolgreich zur Netzwerkbildung innerhalb der Branche und mit anderen Wirtschaftszweigen bei. Die Geschäftsstelle bietet Kreativen Orientierung bei der Suche nach themenrelevanten Institutionen, Fördermöglichkeiten und Branchenexperten und informiert auf ihrer Website und in ihren Publikationen über kreativwirtschaftliche Themen und Trends.

Kontakt

HA Hessen Agentur GmbH
Geschäftsstelle Kreativwirtschaft Hessen
Konradinerallee 9
65189 Wiesbaden

Susanne Stöck und Daniela Hartmann
Telefon: +49 611 95017-8328
E-Mail: kreativwirtschaft@hessen-agentur.de

www.kreativwirtschaft-hessen.de

 

Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir sagt:

„Dass Hessen ein sehr guter Standort für Kreative ist, ist mittlerweile auch jenseits der Landesgrenzen bekannt. Gemeinsam mit der Branche wollen wir daran arbeiten, den Kreativstandort Hessen weiter zu stärken.“  (Datenreport 2019, Kultur- und Kreativwirtschaft in Hessen)