Musizieren und Komponieren mit Kontrollverlust

von Hessen schafft Wissen

Musizieren und Komponieren mit Kontrollverlust

von | 5. Mai 2020 | Kunst & Kultur, Wissenschaft

Visualisierte Musik – Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main

„Kommt rein, es ist gerade eine echt schöne Stimmung oben“, begrüßt uns Karin Dietrich, die Leiterin des Institutes für zeitgenössische Musik (IzM) an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK) in Frankfurt am Main. Wir betreten die Wartburg – eine der Spielstätten des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden – durch eine schwere Holztür und werden in den dunklen Theatersaal geführt, in dem bereits die Proben für das Projekt „Visualisierte Musik“ laufen. Studenten der HfMDK werden am nächsten Tag in Kooperation mit Studenten der Hochschule Mainz eine eigene Interpretation des Stückes „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann aufführen. Die Kompositions-Studenten, Musiker sowie Computerkünstler wollen eine Wechselwirkung zwischen live gespielter und elektronischer Musik mit projizierten Videosequenzen erschaffen.

Das klingt spannend im doppelten Wortsinne und Orm Finnendahl, Professor für Komposition an der HfMDK in Frankfurt, erklärt uns genauer, worum es bei diesem Projekt geht: „Die Musiker sehen heute eine Reihe von Videosequenzen und improvisieren dazu. Die Kompositionsstudenten an den Tischen bekommen das Signal der Musiker in einen Computer übertragen und können nun einzelne Sequenzen aufnehmen und transformiert wiedergeben. Dabei haben die Kompositions-Studenten keinen Einfluss auf die Tonhöhe oder die Melodie. Die Dauer jeder Sequenz ist auf maximal sechs Sekunden beschränkt. Das ist sehr gefährlich, weil es zu unglaublichem Lärm führen kann.“

Musizieren und Komponieren mit Kontrollverlust also. Und wofür kann das gut sein, will ich wissen? „Mir ist wichtig, dass die Hörhaltung eine andere wird. Der Kontrollverlust führt am Ende zu einer völlig neuen Wahrnehmungshaltung. Man arbeitet viel mit Geräuschen, die am Ende Texturen bilden. Die Loslösung vom Notensystem soll den Studenten helfen, sich und ihre Arbeitsweise zu hinterfragen und bei ihrer späteren Arbeit in der Komposition von neuen Perspektiven auszugehen. Die anwesenden Musiker spielen normalerweise ausschließlich klassische Musik und haben nur wenig Zugang zu zeitgenössischer Musik und Atonalität. Das Projekt zwingt sie in die Improvisation, und die Studenten beginnen, sich auf dieser Ebene zu verständigen. Diese Situation ist zwar relativ riskant, aber auch unheimlich produktiv und daraus entstehen dann Dinge, bei denen die Komponisten und Instrumentalisten selber überrascht werden. Das Beste, was passieren kann, ist, dass sie an Fragen kommen, die sie sich nie gestellt hätten…“

Prof. Orm Finnendahl

Orm Finnendahl, Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst

Ich unterhalte mich mit Professor Finnendahl über seinen Studiengang „Komposition“ und bin überrascht, dass gerade mal 15 Studenten momentan den Studiengang absolvieren. „Der Vorteil ist, dass ich wirklich auf jeden einzelnen Studenten individuell eingehen kann. Die Aufnahmeprüfungen sind nicht wirklich leicht und ich suche mir meine Klasse schon gezielt aus. Ziel des Studiengangs ist, dass die Studenten ihre eigene musikalische Sprache und Ausdrucksform finden sollen. Ich möchte ihnen den Blick zur zeitgenössischen Musik öffnen und herausfinden, worauf sie am stärksten reagieren und ihre eigene Resonanz finden. Das Projekt „Visualisierte Musik“ ist dafür ein toller Baustein, da er die Hörhaltung der Studenten verändert.“

Als ich später in der Generalprobe gespannt zuhöre und die Videosequenzen zusammen mit der Musik auf mich wirken lasse, merke ich deutlich, wie mich das Stück mitnimmt und sich auch meine Hörhaltung verändert. Professor Finnendahl fügt an:  „Wenn die Klänge etwas mit dem Hörer machen, ist das schon wunderbar. Zeitgenössische Musik sollte im besten Falle den Zeitraum reflektieren, in der sie erzeugt wurde. Was unsere Zeit von allen anderen Zeiten unterscheidet, ist das Eindringen von Technologie in jede Faser unseres Lebens.“ Wenn es eines gibt, was man über die Interpretation des Stückes „Die Soldaten“ hier in der Wartburg mit Fug und Recht sagen kann, dann, dass Technologie und Musik hier auf wundervolle Weise kombiniert wird.

Musiker

„Ziel des Studiengangs ist, dass die Studenten ihre eigene musikalische Sprache und Ausdrucksform finden sollen“, sagt Professor Finnendahl.

Dreißig Sekunden, bevor die Generalprobe zur Interpretation des Stückes „Die Soldaten“ frei nach Bernd Alois Zimmermann beginnt, herrscht gebannte Stille. Die Musikstudenten der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt werden hier an dieser Spielstätte des Staatstheaters Wiesbaden live zu Videosequenzen improvisieren, die von Mainzer Studenten der University of Applied Sciences in den Saal projiziert werden. Und auch Studenten des Studienganges „zeitgenössische Komposition“ sind mit von der Partie und werden kurze Versatzstücke der Musiker live aufgreifen, transformieren und wiedergeben. Ein zugegeben waghalsiges Bestreben, das die musikalische Perspektiven der Musiker und Komponisitions-Studenten ordentlich durcheinander wirbeln soll, wie uns Professor Finnendahl von der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt berichtet.

Das Stück, das hier aufgeführt werden soll, folgt dem Projekt „Virtuelle Musik“ – einer interdisziplinären Zusammenarbeit, die bereits vor 10 Jahren von Professor für Musiktheorie an der HfMDK Ernst August Klötzke ins Leben gerufen wurde: „Entstanden ist das Projekt eigentlich aus einer Not heraus. Ich hatte eine Lücke im Etat und eine Position, die ich besetzen musste, da kam mir die Idee dieser Reihe“, sagt er mit einem verschmitzten Lächeln. Aber auch für die Studenten sei die Arbeit an einem echten Theater ein Gewinn: „Die Hochschule ist ja immer auch ein Schutzraum. Die Kritik, der sich die Studenten an einer Hochschule stellen, ist immer nur die Kritik der Lehrenden und der Kommilitonen. Hier am Staatstheater wird dieser Schutzraum aufgebrochen und die Studenten stellen sich einem echten und anspruchsvollen Publikum. Wenn es dem Publikum nicht gefällt, dann äußert es das.“  Das Stück „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann ist nicht wirklich einfach, wie Professor Klötzke zugibt: „Das Stück ist wirklich schwierig und komplex und es trauen sich leider wirklich nur die großen Häuser heran, was sehr schade ist. Zimmermann selbst hat ja immer mit unterschiedlichen Elementen gearbeitet, mit Improvisation, mit Elementen von Jazz, sehr avancierte, kompositorische Methoden. Die Frage, die wir uns gestellt haben, ist, wie gehen wir heute mit solch einem Stoff um, der so unglaublich brutal ist.“

Brutal ist die Aufführung dann allerdings nicht, dafür aber wirklich aufwühlend und mitreißend. Ein Fest für die Sinne, welches mit Sicherheit nicht nur die musikalischen Perspektiven der Studenten verändert.

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